Die Helvetica gilt unter typografisch Angelernten in wiederkehrenden Wellen als hip, stets jedoch als Kunstwerk und Beispiel reiner Lehre. Die Arial hingegen trägt für so manchen Formgelehrten die Züge des Leibhaftigen, des schriftgewordene Bösen, von Microsoft verlegt.
Außenstehenden ist der Sachverhalt kaum zu erklären. So würden doch all meine Verwandten bis zum dritten Grade viele Menschen die Unterschiede der beiden Fonts nicht erkennen, eine Differenz im Zweifel gar bestreiten und mir hingegen pathologische Glyphomanie attestieren und die Wiederaufnahme therapeutischer Maßnahmen nahelegen.
Auch würde mutmaßlich der durchschnittlich frei denkende CT-Leser die Arial zum Einsatz bringen, hätte er die Wahl. Denn sie ist ja »bei Word« immer installiert. Und da hätte er sogar recht und täte gut daran, will er das Dokument denn weitergeben.
Für uns Eingeweihte gilt nach wie vor der Einsatz als verpönt, von Webdesignern wird höchstens der Fließtext geduldet und sich schnell hinter dem Wörtchen »medienadäquat« (in Futura Extrabold) geduckt. Wo es geht wird aber auf die Verdana ausgewichen (Glück gehabt) und Georgia gepredigt (Stil gehabt), der Mutige empfiehlt gar mal Lucida oder Tahoma in Betracht zu ziehen. Oder er stürzt sich verzweifelt auf IR-Techniken aller Art, um wieder Helvetica in die Headlines zu bringen. Auf Anhieb die Arial ungestützt und ohne Vergleich erkennen, könnten allerdings die Wenigsten, auch wenn sie es niemals offen zugäben.
Und trifft man im Briefing auf einen Marketingleiter der offen sagt die Arial sei seine Hausschrift, weiß man instinktiv, das hier noch kein Studierter an der CI beteiligt war. Und man fragt sich kurz, ganz kurz, warum man sich mit sowas befassen muss. Nach dem Termin hat man sich meist mehrfach formbulemisch übergeben, um zuhause in aller Ruhe ein kaltes Vollbad in ätherischer Akzidenz Grotesk zu nehmen oder heimlich mit der Lupe in Schwabacher zu wühlen.
Wie konnte es soweit kommen, mit dieser Arial? Ist es nur die Hässlichkeit des Weitverbreiteten, des Populären? Eher nicht, denn weit verbreitet ist der schweizerische Konkurrent ja auch (und daran leidet er auch immer wieder).
Ist das Stigma der Microsoft Auftragsarbeit für den tradiert Mac-Nutzenden so belastend? Vielleicht. Doch Georgia und Verdana sind dies auch gewesen.
Letztlich ist es die belastete Geschichte, die, meist mündlich überliefert, von den Weisen weitergetragen wird. Dass es sich um einen aufwändig popularisierten Bastard handle, um eine billige Kopie, heimlich womöglich auf Windows-Maschinen nachgeschnitten, in irgendwelchen Hinterzimmern von Feinden des Schweizer Bundes im Allgemeinen, und Verächtern der schönen Glyphe im Speziellen. Voller Fehler schwerster Ordnung. Man munkelt gar ein östlicher Geheimdienst sei beteiligt. Wenigstens aber die Illuminaten oder der KKK.
Und das ist sicher nicht aus der Luft geholt. Und das war sicher nicht das erste oder letzte Mal. Und wer Schriften fälscht, nachmacht, oder gefälschte oder nachgemachte Schriften in Umlauf bringt, wird mit Missachtung nicht unter Junior Art Director bestraft. (erinnert sich noch jemand an den korrekten Wortlaut auf der D-Mark?).
Es gilt: Die Arial steht zur Helvetica in einem Verhältnis wie Brotkruste zu Torte, wie Söder zu Platzeck Semmelrogge zu Bukowski, wie Camouflage zu Depeche Mode.
Und da fängt es an: Hatte Camouflage nicht diesen Hit, den wir alle liebten und heute noch gerne dazu mal ne warme Sohle machen. Sind sie wir nicht heimlich Fans? Nehmen wir nicht heimlich mal die Arial Narrow ins Visier oder setzen mal ganz kühn in Arial Black, selbst wenn Helvetica Neue 73 (geklaute Lizenz) installiert ist.
Zugeben würden wir höchstens, ein-, zweimal das Euro-Zeichen benutzt zu haben. Damals, als es noch knapp verfügbar war. Aber auf das Zeichen selbst schimpfen wir ja auch mit Inbrunst schwarzgewandet auf der Afteraward Party.
Besonders viel Spaß macht es auf die ungeliebte Arial einzutreten, wenn man dabei ein Buch promoten kann.
Und ich will sie gar nicht ausspielen gegen die gefühlte Mutter aller Grotesken und Gothics, aller Serifenlosen, Neutralen und Gernversalgesetzten. Gegen die große monolithische Helvetica. Doch sollte der Geneigte sich mal wieder mit der Form an sich und nicht so sehr mit festgefahrenen Klischees befassen. Mal die Ästethik der 3 vergleichen, vorurteilsfrei über den Bart des G und den Fuß des R richten. Die Arroganz der 2 abschätzen und das Understatement des großen J.
Und dann schaue man mal bitte aufs ß.
Bitte.
Mehr wollte ich nicht.
2005-11-26 02:12
Du schreibst da was über Verwandte bis zum dritten Grade. Ich glaub, ich liege da drunter. Und ich kenne (und schätze) den Unterschied zwischen Arial und Helvetica. Soweit meine Gegendarstellung.
2005-11-26 10:21
hm, da is was dran
2006-01-27 18:44
sehr interessant: http://stdk.de/docs/ainh.html
2006-01-28 21:20
man sagte mir, der text sei etwas zu “hermetisch”!? Bitte um kommentare und verständisfragen. gerne auch anonym. IPs werden von mir vertraulich behandelt.
2006-01-28 23:23
“heimlich mit der Lupe in Schwabacher zu wühlen” oder „wird mit Missachtung nicht unter Junior Art Director bestraft“ da muss selbst (oder gerade) der typographisch Unbewanderte Texter – der von eurer Gilde ja gerne auch mal Grauwertgestalter beschimpft wird, weil er nicht mal wie was eine Serifenlose linear antiqua ist – mehr als nur grinsen.
Kompliment in groß.
Und wann lobt schon mal ein Schreiber die Worte eines Grafikers – doch nur, wenn der Art Director zuvor das Augenmaß des Texters lobte – also wie in diesem Fall.
2006-11-13 17:26
klick das: http://www.iliveonyourvisits.com/helvetica/
2007-05-20 12:11
video von der typo zum thema: http://www.typovideo.de/index.php?node_id=9&lang_id=1&scope=front&ds_target_id=750
2009-09-22 15:10
@jeffjarvis blogged about that once [de] http://bit.ly/w9g75 still one of my fav posts by myself.